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Zur Wissenschaftlichkeit der Psychoanalyse – ein kurzer Kommentar

Aktualisiert: 20. März


Immer wieder, ja bis heute, wird die Wissenschaftlichkeit der Psychoanalyse infrage gestellt. Wie kann das sein, frage ich mich, wo doch allerspätestens seit Thomas Kuhn (1967) bekannt ist, dass es nicht nur eine einzige, einzig wahre Art und Weise gibt, Wissenschaft zu betreiben. Vielmehr konkurrieren verschiedene Paradigmen miteinander – oder, mit Ludwig Fleck (1935) gesprochen, unterschiedliche Denkstile. Dies gilt insbesondere für die Psychologie. Es gibt nicht eine Psychologie, sondern eine Vielzahl von Psychologien, die seit den Anfängen des Fachs miteinander ringen (Benetka, 2002). Man denke etwa an Wilhelm Wundt, einen der frühen Begründer der Disziplin, der die Psychologie noch sowohl als Natur- als auch als Kulturwissenschaft bestimmte.


Was ist Wissenschaft?


Derzeit dominiert in der Psychologie ein Paradigma, das sich (immer noch) am (zumeist äußerst vereinfachten) Verständnis des kritischen Rationalismus sensu Karl Popper orientiert und ein nomothetisch-hypothesentestendes Vorgehen zur Schaffung von Wissen bevorzugt. Es harmoniert bestens mit dem Menschenbild der Verhaltenstherapie und -ökonomie und hat, wenig überraschend, seit den 1970er Jahren seinen Siegeszug angetreten (vgl. Dalal, 2018). Unumstritten ist es gleichwohl nicht. Das Paradigma der Mainstream-Psychologie – samt den damit verbundenen wissenschaftstheoretischen Annahmen – steht seit Anbeginn in der Diskussion und wird aus unterschiedlichen Richtungen kritisch betrachtet, darunter auch aus psychoanalytischer Perspektive (Jaeggi, 2002).


Wessen Evidenz zählt?


Der Begriff ‚evidenzbasiert‘ wird häufig verwendet, ohne dass immer kritisch hinterfragt wird, wie diese Evidenz genau entsteht und ob die Methoden, die diese Evidenz generieren, dem Forschungsgegenstand (der Komplexität psychischer Phänomene) wirklich angemessen sind (vgl. Slunecko, 2023). In einem stark regulierten Gesundheitssystem spielen zudem auch wirtschaftliche Faktoren eine Rolle, die sich auch auf die Psychologie und Psychotherapie auswirken. Das mag nicht ganz zur (Idealisierung der) Profession des „Helfens und Heilens“ passen. Umso wichtiger ist es, grundlegende Fragen zu Theorie und Wissenschaftlichkeit zu stellen und diese immer wieder kritisch zu überprüfen.


Von der romantischen Vorstellung, dass es in der Wissenschaft ausschließlich um Wissen und Wahrheit geht, muss man sich jedenfalls verabschieden. Neben diesen noblen Motiven sind es doch allzu menschliche Menschen, die Wissenschaft betreiben (und die KI-Maschinen bedienen). Wäre es da nicht angebracht, die dem Menschen nun einmal inhärente Subjektivität kritisch zu reflektieren, statt sie schlicht zu ignorieren, abzuwehren und methodisch auszuschließen? Doch wie bescheiden müsste man dann angesichts der eigenen Forschungsergebnisse werden…!


Bleibt erst einmal festzuhalten:


Selbst nach den Kriterien des vorherrschenden Wissenschaftsverständnisses zeigen zahlreiche Studien, dass die aus der Psychoanalyse abgeleiteten Psychotherapieverfahren – tiefenpsychologisch fundierte und analytische Psychotherapie, in ihren Kurz- und Langformen – evidenzbasiert wirksam sind.


Hat man einmal das Realitätsprinzip auf sich einwirken lassen, also realisiert, dass das gegenwärtige Gesundheitssystem und die Forschung stark durch ökonomische Rahmenbedingungen beeinflusst sind, müssen psychotherapeutische Verfahren sich in gewissem Maße an bestehende Anforderungen anpassen – insbesondere, wenn sie Teil der Kassenversorgung bleiben wollen. Dass dies gelingen kann, ohne die eigenen theoretischen Wurzeln zu verleugnen, ist ein spannender Drahtseilakt, der eine hohe artistische Geschicklichkeit erfordert. Bemerkenswert ist, dass die Psychoanalyse neben dem, was sie sonst noch so alles drauf hat (ihren vielfältigen theoretischen und praktischen Beiträgen) auch evidenzbasiert wirksam ist. In Deutschland hat sich – meinem subjektiven Überblick nach – hier insbesondere die Forschergruppe um Cord Benecke aus Kassel hervorgetan.


Wissenschaft der Psychoanalyse


Schon Sigmund Freud betonte das enge Zusammenspiel von Forschen und Heilen. Die Psychoanalyse ist nicht nur eine Behandlungsmethode psychopathologischer Phänomene, sondern stellt auch eine eigenständige Metatheorie des Psychischen samt Methodologie und Epistemologie dar. Während sich andere Psychotherapieverfahren auf die akademische Psychologie beziehen, hat die Psychoanalyse auch eine darüber hinausgehende eigenständige Theorie, die zum Beispiel dynamisches Unbewusstes, Struktur und Konflikt zentral mitdenkt und so auch eigenständige Theorien zu Persönlichkeit, Entwicklung, Beziehungen, Denken, etc. vorlegt. Trotz mancher Gemeinsamkeiten unterscheidet sie sich also in wesentlichen Merkmalen von der akademischen Psychologie. Das macht die ganze Sache komplexer, aber auch spannender.


Kurz gesagt, dominiert in der Psychoanalyse ein anderes Paradigma als in der Mainstream-Psychologie und der Verhaltenstherapie (vgl. etwa zur konnotativen Logik der Psychoanalyse Schülein, 2016; zur Differenzierung zwischen Psychotherapie und Psychoanalyse, Müller, 2023). Dementsprechend unterscheiden sich auch die methodologischen und methodischen Zugänge zur Erforschung psychischer Prozesse.


Seit Freud hat sich die Psychoanalyse (von der kaum noch im Singular gesprochen werden kann) zudem kontinuierlich weiterentwickelt – nicht zuletzt, weil sich "die Psyche" als ein höchst bewegliches Phänomen erwiesen hat, das sich mit der Kultur, in der sie existiert, wandelt. Besonders spannend sind beispielsweise aktuelle Forschungsansätze, die nicht nur die vertikale Dimension des Unbewussten, sondern auch die horizontale Dimension untersuchen, wie etwa des Vereins Junktim e.V. um Michael Buchholz im Rahmen Metaphern- und konversationsanalytischer Zugänge.


Fazit


Die Wissenschaftlichkeit der Psychoanalyse lässt sich auf zweierlei Weise verteidigen:


  1. Selbst nach Maßstäben eines ihr eher fremden Wissenschaftsverständnisses (und Menschenbildes) sind die aus der Psychoanalyse abgeleiteten Psychotherapieverfahren evidenzbasiert wirksam. Wohingegen – diese kleine Randbemerkung sei noch erlaubt – die häufig prominent angeführten Wirksamkeitsnachweise der Positiven Psychologie und Verhaltenstherapie, einer genaueren Analyse nicht immer standhalten (vgl. Brandt, 2024; Dalal, 2018).

 

  1. Es lohnt sich, bei der Frage nach Wissenschaftlichkeit stets zurückzufragen: Welche Wissenschaftlichkeit ist gemeint? An welchen Kriterien wird sie festgemacht? Sind Objektivität, Reliabilität und Validität im 21. Jahrhundert noch angemessene Maßstäbe? Selbst in den harten Naturwissenschaften wird die Vorstellung einer absoluten Objektivität oder der „Replizierbarkeit von Wirklichkeit“ kaum noch vertreten. Sind diese Kriterien insbesondere für die Erforschung komplexer psychischer Phänomene wirklich adäquat und angemessen? Oder wären andere Maßstäbe sinnvoller? Intersubjektive Nachvollziehbarkeit könnte beispielsweise ein relevanteres Kriterium sein, ebenso wie idiografische Zugänge sich bei einigen Fragestellungen als die angemesseneren herausstellen könnten, vor allem wenn es um das Individuum geht (Straub, 2023).



Letztlich sollte es nicht darum gehen, eine Methode bzw. eine Wissenschafts-, Welt- und Menschenanschauung gegen die andere auszuspielen – so, wie es das hegemoniale Paradigma mit seinem „Psychoanalyse-Bashing“ betreibt. Profunde Kritik und produktiver Konflikt: ja, bitte. Gerade im lebendigen und wertschätzenden, d.h. mit sachlichen Argumenten vorgetragenen Widerstreit ergeben sich oft die innovativsten Ansätze und Ideen. Othering und affektgetriebene Abwertung des Anderen, ohne sachliche Argumente: nein, danke. Ein bisschen Würze und Augenzwinkern im Widerstreit: warum nicht? Eine gewisse Prise Humor im wissenschaftlichen Disput kann durchaus bereichernd sein.


Zumindest sollte man anerkennen, dass es unterschiedliche Verständnisse von Wissenschaft und vom Menschen gibt – insbesondere in postkolonialen Zeiten, in denen kaum noch jemand behaupten würde, eine einzige Weltanschauung sei allen anderen überlegen. Natürlich ist es legitim, andere Perspektiven kritisch zu hinterfragen und auf der Grundlage fundierter (z.B. wissenschaftlicher) Analysen zu kritisieren. Es reicht jedoch nicht aus, sie pauschal und je nach Belieben als ‚veraltet‘ oder ‚unwissenschaftlich‘ abzutun. Um mit den Worten des Physikers Alfred Gierer zu schließen:


Im Gegensatz zu Auffassungen von Fundamentalisten – sei es auf dem religiösen, sei es auf dem atheistischen Flügel des Meinungsspektrums – ist die Welt, erkenntnislogisch gesehen, intrinsisch mehrdeutig, und darin wird sich auch nichts ändern: Philosophischer, religiöser und kultureller Pluralismus werden auf Dauer bestehen. Wir dürfen wählen, und dabei kommt nicht nur Wissen, sondern auch Weisheit und Lebenskunst ins Spiel. Und wir können dabei gelassen und nach Möglichkeit nicht ganz humorlos weiterhin mit Widersprüchen leben: nicht nur interkulturell, sondern auch innerhalb von Kulturen und Teilkulturen, in gewissem Maße sogar innerhalb unseres je eigenen, persönlichen Denkens und Empfindens.“

 



Literatur


  • Benetka, G. (2002). Denkstile der Psychologie: Das 19. Jahrhundert. Facultas.

  • Brandt, S. (2024). Kritik der Positiven Psychologie. Psychosozial-Verlag.

  • Dalal, F. (2018). CBT: The cognitive behavioural tsunami – Managerialism, politics and the corruptions of science. Routledge.

  • Fleck, L. (1935). Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1980

  • Gierer, A. (2009). Wissenschaft, Religion und die deutungsoffenen Grundfragen der Biologie. Max-Plack-Institut für Wissenschaftsgeschichte; Abruf unter: https://www.mpiwg-berlin.mpg.de/sites/default/files/Preprints/P388.pdf

  • Jaeggi, E. (2002). Kritische Psychologie und Kritik der Psychologie - eine Übersicht. Journal für Psychologie, 10(3), 305-314.

  • Kuhn, T. (1967). Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp

  • Müller, A. (2023). Psychoanalyse versus Psychotherapie. Turia und Kant.

  • Schülein, J. A. (2016). Die Logik der Psychoanalyse. Eine erkenntnistheoretische Studie. Psychosozial-Verlag.

  • Slunecko, T. (2023). Gegen die Akademisierung von Psychotherapie aus dem Geist der Klinischen Psychologie. In A. Drossos, W. Datler, E. Gornik, & C. Korunka (Hrsg.), Die Akademisierung der Psychotherapie: Aktuelle Entwicklungen, historische Annäherungen und internationale Perspektiven (S. 145-168). Facultas.

  • Straub, J. (2023). Psychologie ohne Individuum? Individualität in der Kulturgeschichte Europas und als Leerstelle der Psychologie. Psychosozial-Verlag.

 

 

 
 
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